Die Künstler haben recherchiert, unsere Journalisten offenbar nicht

Große Aufregung über die politischen Botschaften bei Glastonbury-Festival in England. ZEIT ONLINE und die Süddeutsche versuchen, die Geschehnisse einzuordnen, Michael Benčec auch. Füllen die Musiker*innen mit ihren Reden und Parolen ein Vakuum, das durch tendenziöse Berichterstattung entstanden ist?

Einige Auftritte beim Glastonbury-Festival sorgen für Aufregung. Politik und Medien in Großbritannien zelebrieren die übliche Schnappatmung und echauffieren sich in gewohnter Manier über Wortmeldungen, die sie als Eklat bezeichnen.

Was ist geschehen? – Einige der Musiker*innen haben die Zeit auf der Bühne genutzt, um sich mit der palästinensischen Zivilbevölkerung zu solidarisieren. Damit folgen sie einer langen Tradition. Rock- und Popmusiker nutzten im Laufe der Geschichte immer wieder ihre Bühne, um dem Krieg den Stinkefinger zu zeigen. Jimmy Hendrix‘ Interpretation der US-Hymne beim Woodstock-Festival 1969 sprach Bände. Bob Dylan, John Lennon und Neil Young schrieben während des Vietnamkriegs mehrere Hymnen der Antikriegsbewegung. Viele große Namen sind seitdem in deren Fußstapfen getreten. 

Nun ist es wieder so weit. Interessanterweise erkennen die Menschen die historische Bedeutung der Gegenwart offenbar besser als viele Redaktionen. In einem Artikel der Süddeutschen wird eine deutsche Glastonbury-Besucherin paraphrasiert. „Der Krieg im Nahen Osten“, heißt es da, „sei das größte politische Thema ihrer Generation“. Und die Frau ergänzt, dass der Krieg „keine zwei Seiten mehr [habe], wenn die einen Kinder der anderen aushungern“.

Mit dem zweiten Satz spricht die Frau einen sehr elementaren Punkt an: Es ist irritierend, es ist verstörend, es ist unfassbar, mit welcher Gewalt die israelischen Soldaten seit 21 Monaten gegen die Menschen in Gaza vorgehen. Warum? – Weil keine menschliche Entwicklung bei den IDF-Kräften zu sehen ist. Lassen Sie es mich anhand eines Liedes erklären. 2008 veröffentlichte die amerikanische Band „Rise Against“ ein Antikriegslied mit dem Titel „Hero of war“. Darin wird die Geschichte eines Soldaten erzählt, der dem Militär beitritt, um die Fahne seines Landes zu ehren, ein Held zu werden und seine Familie stolz zu machen. Es wird erzählt, wie die jungen Rekruten zu Freunden wurden, irgendwann dann militärische Missionen ausführten. Doch schon in der dritten Strophe wird klar, dass ethische Maßstäbe verloren gehen, dass Kriegsverbrechen begangen werden, an denen sich der Soldat beteiligt, bis er ein Erweckungserlebnis hat. „She walked through bullets and haze“ heißt es. Ist eine Frau gemeint? Oder ein Mädchen? – Man weiß es nicht. „I asked her to stop“, heißt es weiter, „I begged her to stay“, steigert es sich und er erschießt sie, um dann zu bemerken, dass sie eine weiße Flagge bei sich trug – was seine Sicht der Dinge vollkommen verändert: Die weiße Flagge wird nun seine neue Fahne, „the only flag I trust“. 

Wie viele palästinensische Frauen und Mädchen müssen noch niedergebombt, verbrannt, von Panzerfäusten zerfetzt, von Drohnen und Scharfschützen eliminiert und von Grenzern ausgehungert werden, bis die Gnadenlosigkeit, der blinde Hass, der Blutrausch der israelischen Soldaten endlich aufhört? 

Dieser Gedankengang dürfte eine große Rolle gespielt haben, als der Londoner Musiker Bob Vylan am Samstag, nach 21 langen Monaten des Abschlachtens palästinensischer Menschen von der Bühne aus die Parole „Death, death to the IDF“ anstimmte, die dem israelischen Militär buchstäblich den Tod wünscht. Ein Kontext, der auf ZEIT ONLINE natürlich ebenso verschwiegen wird, wie die Hintergrundinformationen zu Kneecap, eines irischen Trios, das die BBC von vornherein aus der Liveübertragung ausgeschlossen hatte. Zwar werden den Iren über 200 Wörter gewidmet, die aber alle dazu dienen, ihnen Terrornähe zu attestieren. Die Süddeutsche macht das etwas besser: Martin Wittmann, der eigentlich Wirtschaftskorrespondent ist, geht auf die Perspektive der Iren ein. „800 Jahre Kolonialismus unter dem britischen Staat“, hätten sie verbracht, wurden aber „,nie aus der Luft bombardiert‘“, wird Mo Chara zitiert, „Israel begeht Kriegsverbrechen. Ich muss euch das nicht vorbeten, wir alle sehen es, wir alle haben ein Handy“.

Etwas peinlich wird der ZEIT ONLINE Artikel gegen Ende. Jens Balzer geht auf die australische Punkband Amyl and the Sniffers ein, deren Sängerin, Amy Taylor, eine politische und historische Einordnung lieferte und mit folgenden Worten zitiert wird: „Wir lernen nichts Richtiges, und wir sehen nichts Richtiges in den Medien. […] Sie wollen nicht, dass wir es wissen. Sie wollen, dass wir die Klappe halten, denn wenn wir an Palästina denken, dann denken wir zu Hause in Australien an die Ureinwohner dort und an die Tatsache, dass wir als Weiße die verdammten Kolonisatoren sind“. 

Jens Balzer nutzt den darauffolgenden Absatz, um die junge Frau in die Schwurblerecke zu stellen, weil sie den Konflikt „zwischen Palästinensern und Israels“ als „Konflikt zwischen ‚Ureinwohnern‘ und ‚Kolonisatoren‘“ darstellt. Pop, so der ZEIT-Autor, sei „schon immer ein großer Vereinfacher gewesen“.

Und hier wird der Artikel endgültig enttäuschend. Warum? – Weil der Autor sich in den letzten 21 Monaten offenbar nicht die Mühe gemacht hat, einmal nachzuforschen, was denn die Wissenschaft dazu sagt. Stichwort „Siedlerkolonialismus“: Menschen kommen in eine bereits bewohnte Region, betreiben Landnahme und Verdrängung, marginalisieren die einheimische Bevölkerung, schaffen Legitimationsmythen für ihr Handeln, fördern die Ansiedelung und tilgen langfristig die Geschichte und Kultur der Menschen, die vor ihnen dort lebten durch Aneignung und Umdeutung. Siedlerkolonialismus. Amy Taylor (er)kennt ihn, Jens Balzer von ZEIT ONLINE leider nicht. Und by the way: Amy Taylor hat auch in dem Punkt recht, dass wir davon nichts erfahren sollen. So schreiben Jürgen Mackert und Ilan Pappe im Vorwort zu ihrem 2024 erschienenen Buch „Siedlerkolonialismus. Grundlagentexte des Paradigmas und aktuelle Analysen“, dass die siedlerkoloniale Theorie und Analysen „augenscheinlich […] aus dem wissenschaftlichen und öffentlichen Diskurs“ ausgeklammert werden, „in Deutschland im Besonderen“. „Amy Taylor 2, Jens Balzer 0“, möchte man sagen. Und doch muss man Balzer zugute halten, dass er wenigstens nicht die Einordnung irgendwelcher pro-zionistischen Israelfanboys in seinen Artikel eingebaut hat. Zählt es doch zum Pflichtprogramm deutscher Journalisten, solche Artikel mit Verlautbarungen israelischer Politiker*innen oder Anhänger zu garnieren. 
Das wiederum muss man Martin Wittmann von der Süddeutschen negativ ankreiden. So zitiert er die Autorin Charlotte Henry, die das Glastonbury-Festival als ein „antijüdisches, antiisraelisches Hassfest“ bezeichnet. „Warum, Herr Wittmann? Waruuuum?“ Wann nimmt diese Vereinnahmung jüdischer Menschen für die israelischen Kriegsverbrechen endlich ein Ende? – Wir wissen es nicht. 
Was wir nun aber wissen: Musiker*innen machen ihre Hausaufgaben. Sie recherchieren. Sie stellen Zusammenhänge her. Sie informieren.

Klingt schwer nach Journalismus. 
Wer sich am Vokabular stört, soll sich an die eigene Nase fassen. Wenn Medien und Politik Kriegsverbrechen und Genozid nicht beim Namen nennen, entsteht ein Vakuum, das dann eben andere füllen. Der Hunger nach Klartext will gestillt werden. Die Diskrepanz zwischen dem, was wir sehen, und dem, was man uns erzählt, will beseitigt werden. Nicht nur die Wut über die Kriegsverbrechen in Palästina, sondern auch die Wut darüber, täglich für dumm verkauft zu werden, muss sich Luft verschaffen. Und das ist gut so, denn es zeigt: Wir Menschen begreifen manchmal mehr, als man uns zutraut.