Michael Benčec, 22.06.2025
Michael Benčec kritisiert in dem Artikel das Versagen deutscher Leitmedien bei der Berichterstattung zu den Kriegen im Nahen Osten. Anhand konkreter Beispiele – vom Umgang mit dem Genozidvorwurf gegen Israel, über das Verschweigen völkerrechtswidriger Handlungen wie das Kapern eines Hilfsschiffs, bis hin zur einseitigen Darstellung israelischer und amerikanischer Militärschläge gegen den Iran – wird gezeigt, wie zentrale juristische Fragen systematisch ausgeblendet werden. Statt ihrer Rolle als „Vierte Gewalt“ gerecht zu werden, verbreiten Medien Narrative der israelischen oder deutschen Regierungen und marginalisieren kritische Expertenstimmen. Der Artikel ruft dazu auf, sich aktiv einzumischen, Redaktionen anzuschreiben und auf eine Rückkehr zu seriösem, rechtsstaatlich orientiertem Journalismus zu drängen – denn eine funktionierende Demokratie braucht Medien, denen Recht und Gesetz nicht egal sind.
„Wehret den Anfängen!“ – ein kluger Rat, den viele aus der Zivilgesellschaft beherzigt haben: Friedensgruppen, Ärzte, Wissenschaftler, Künstler, Privatpersonen – sie alle haben mit offenen Briefen, E-Mails und Leserkommentaren versucht, dem Flächenbrand in der deutschen Medienlandschaft entgegenzuwirken. Vergeblich.
Heute steht die Integrität unserer Medien in Flammen. Kritik am Vorgehen westlicher Verbündeter – insbesondere Israels – ist so selten wie ein Schneeball in der Hölle. Taucht sie doch einmal auf, verdunstet sie im Feuersturm der offiziellen Narrative. Die Stimmen der israelischen Regierung, der Armee und ihrer deutschen Unterstützer dominieren. Einzelne kritische Beiträge – von Deborah Feldmann, Michael Lüders, Kai Ambos oder Kristin Helberg – bleiben Alibi-Tropfen auf dem heißen Stein.
Was fehlt, ist seriöse, unabhängige Berichterstattung. Und das sollte auch denen Sorgen machen, die sich nicht für palästinensische Menschenleben interessieren.
Das Versagen der Vierten Gewalt
Medien werden gemeinhin als die Vierte Gewalt im Staat bezeichnet. Anders als Judikative, Legislative und Exekutive sind Medien zwar keine gesetzlich verankerte Staatsgewalt, dennoch übernehmen sie – so die Idee – mit ihrer unabhängigen und kritischen Berichterstattung eine Kontrollfunktion. Was aber soll kontrolliert werden? – Ob sich der Staat an die Regeln und Gesetze hält, zu deren Einhaltung er verpflichtet ist. National und international.
In Bezug auf Israel wurde und wird in den letzten Monaten und Jahren vieles diskutiert, was in den Bereich des Völkerrechts fällt. Diskussionen, die in den deutschen Medien nicht stattfanden.
Beispiel 1: Die Süddeutsche und der Völkermord in Gaza
Googelt man nach den Artikeln der Süddeutschen Zeitung zur Frage, ob Israel in Gaza einen Völkermord begeht, stößt man auf fünf Artikel:
- Schon am 8. Dezember 2023 legte sich Ronen Steinke in einem Kommentar fest: „Der Genozid-Vorwurf gegen Israel trifft nicht zu“, lautet der Titel des Meinungstextes, an dessen Schluss Steinke die Aufmerksamkeit von Israel auf die Hamas lenkt, der er vorwirft, bei ihrem Angriff vom 7. Oktober 2023 in genozidaler Absicht gehandelt zu haben.
- Am 8. April 2024 schreibt Ronan Steinke in seinem Artikel mit dem recht nichtssagenden Titel „Ein einzigartiges Gerichtsverfahren“ über die Verhandlung eines Eilantrags vor dem Internationalen Gerichtshof, der Deutschland dazu zwingen sollte, die politische und militärische Unterstützung Israels einzustellen. Nicaragua hatte den Eilantrag eingebracht. Steinke lässt sich die Chance nicht nehmen, in einem beiläufigen Whataboutismus von der „linksautoritäre[n] Diktatur Nicaragua“ zu sprechen, um die Antragsteller zu diskreditieren. Zum Genozidvorwurf heißt es in dem Artikel: „Noch ist juristisch überhaupt nicht geklärt, ob die Kriegsführung Israels eine Bezeichnung als Völkermord verdient“.
- Am 17. Mai 2024 veröffentlicht die Süddeutsche einen Text der dpa mit dem Titel „Israel weist Völkermord-Vorwurf zurück“, in dem ein Eilantrag Südafrikas erwähnt wird, der darauf abzielt, die Zivilisten in Rafah, dem letzten „Zufluchtsort für etwas 1,5 Millionen Menschen“ vor den laufenden israelischen Militäroperationen zu schützen – nicht ohne sofort im Anschluss die israelische Aussage zu verlautbaren, „Rafah sei ein ‚militärisches Bollwerk der Hamas‘“, während Israel „für humanitäre Hilfe“ sorge und alles tue „zum Schutz der Zivilbevölkerung“.
- Am 5. Dezember 2024 erscheint ein weiterer Artikel von Ronen Steinke: „Amnesty wirft Israel Völkermord vor“. In diesem widmet er den Untersuchungen der Menschenrechtsorganisation in der Summe zwar etwa drei Abschnitte, jedoch beeilt er sich klarzustellen, dass es „bis heute“ keine Klärung durch den IGH gegeben habe, ob Israels Vorgehen „tatsächlich die juristische Definition des Völkermords“ erfülle. Steinke beendet seinen Artikel mit den Äußerungen eines Sprechers des israelischen Außenministeriums, wonach Amnesty International „fanatisch“ sei und ihr Bericht „auf Lügen“ basiere.
- In einem Gastbeitrag mit dem Titel „Völkermord? Im Ernst?“ vom 29. Dezember 2024 erklärt Eva Illouz, eine französisch-israelische Soziologin, warum „der Vorwurf des Genozids und des Aushungerns gegen Israel historisch falsch, unehrlich und antisemitisch“ sei.
Man sollte meinen, dass ein „Qualitätsmedium“ wie die Süddeutsche seine Leserschaft wenigstens in einem der Artikel darüber informiert, wie Südafrika seine Klage vor dem IGH begründet, inklusive der bereits 2023 sehr umfangreichen Sammlung genozidal aufwiegelnder Zitate israelischer Spitzenpolitiker und Militärs.
Auch sollte man meinen, dass ein „Qualitätsmedium“ wie die Süddeutsche seine Leserschaft wenigstens in einem der Artikel darüber informiert, wie die Völkermordkonvention – genauer: Das „Übereinkommen über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes“ vom 9. Dezember 1948 Völkermord definiert. Fehlanzeige! – Böse Zungen könnten mutmaßen, dass die Süddeutsche Zeitung ihrer Leserschaft nicht die Chance bieten will, Parallelen zu entdecken zwischen den in Artikel II der Völkermordkonvention aufgelisteten Handlungen und dem, was das israelische Militär so treibt!
Beispiel 2: Das Kapern des zivilen Schiffs Madleen der Friedensflotilla durch Israel
Beim zweiten Beispiel mache ich es mir als Autor einfach: Ich lade alle Leserinnen und Leser herzlich dazu ein, selbst nach einem Zeitungsartikel oder einer Nachrichtensendung zu suchen, die über die Kaperung der Madleen am 9. Juni 2024 berichtet und dabei folgende juristischen Aspekte überhaupt erwähnt:
- Das Kapern eines zivilen Hilfsschiffs wie der Madleen durch einen Staat ist in internationalen Gewässern ohne völkerrechtliche Grundlage grundsätzlich völkerrechtswidrig.
- Die israelische Seeblockade an sich wird in ihrer aktuellen Praxis von internationalen Expertinnen und Experten als völkerrechtswidrig eingestuft, da sie humanitäre Hilfe verhindert und zum Aushungern der palästinensischen Bevölkerung beiträgt – was einer verbotenen Kollektivstrafe gleichkommt.
- Die Küste des Gazastreifens ist Teil der palästinensischen Gebiete. Laut IGH-Gutachten vom 19. Juli 2024 hat Israel dort völkerrechtlich betrachtet keinerlei Hoheitsrechte. Entsprechend besitzt Israel auch nicht das Recht, Schiffe zu stoppen, die sich der Küste nähern.
Ich bin gespannt, ob Sie fündig werden.
Beispiel 3: ZEIT ONLINE, tagesschau.de und SPIEGEL über Israels Angriff auf den Iran am 13. Juni 2025
Ein Blick auf die jüngste Berichterstattung: Am 13. Juni 2025 startete Israel die Operation „Rising Lion“ – einen massiven Angriff auf iranische Nuklear- und Militäreinrichtungen, bei dem nach offiziellen iranischen Angaben allein an diesem Tag mindestens 78 Menschen getötet wurden, darunter über 60 Zivilisten und etwa 20 Kinder. Auch hochrangige Militärführer und mindestens sechs Nuklearwissenschaftler kamen ums Leben.
Wie wurde darüber in den führenden deutschen Medien berichtet?
- ZEIT ONLINE veröffentlichte am 13. Juni um 5:27 Uhr die Meldung „Israel greift den Iran an“. Direkt unter der Überschrift wird Israels Verteidigungsminister Katz mit dem Begriff „Präventivschlag“ zitiert. Das Völkerrecht bleibt unerwähnt.
- Um 23:33 Uhr folgt der Artikel „Was über den Angriff von Israel bekannt ist“. Die Leserschaft erfährt Details zu israelischen Militärzielen, dem Umfang der Operation und der Rolle des Mossad. Auch hier: kein Wort zum Völkerrecht.
- tagesschau.de bringt um 16:40 Uhr Eckart Aretz’ Bericht „Was über Israels Angriff bekannt ist“. Thematisiert werden militärische Ziele, getötete Militärs und Wissenschaftler, Israels Begründung, die Reaktion Irans und die Rolle der USA. Das Völkerrecht bleibt erneut außen vor.
Am 19. Juni 2025 erscheint auf spiegel.de das „Spitzengespräch zum Krieg zwischen Israel und Iran“. Bereits der Titel „»Das Völkerrecht ist sehr effizient bei der internationalen Bekämpfung der Blattlaus«“ signalisiert, dass die Verbindlichkeit des Völkerrechts relativiert wird – eine Position, die Gast Michael Wolffsohn, ein erklärter Verteidiger der israelischen Politik, im Gespräch ausführt.
Der Gesprächsleiter Feldenkirchen stellt Wolffsohn als einen „der profiliertesten deutschen Historiker“ vor, der „streitbar, meinungsstark“ und dafür bekannt sei „für seine klaren Worte, gerade, wenn es um den Nahen Osten geht“.
Was die Zuschauer nicht erfahren:
Der in Tel Aviv geborene Wolffsohn, leistete ab 1967 in Israel seinen Wehrdienst ab und war bis 1970 als Soldat in den besetzten palästinensischen Gebieten eingesetzt. Der Historiker ist heute als Verteidiger der völkerrechtswidrigen israelischen Siedlungspolitik bekannt. Besonders bemerkenswert: Am 5. Mai 2004 erklärte Wolffsohn im Fernsehen auf n-tv, dass er Folter „als eines der Mittel gegen Terroristen […] für legitim halte. Jawohl.“ Diese Aussage löste damals breite Empörung aus und führte dazu, dass der damalige Verteidigungsminister Peter Struck (SPD) Wolffsohn zu einem Gespräch nach Berlin einbestellte – jedoch ohne weitere Konsequenzen.
Diese Haltung zeigt: Für Wolffsohn waren grundlegende Rechtsprinzipien offenbar schon früher verhandelbar und sind es auch heute, wenn es um israelische oder westliche Interessen geht. Das erklärt, warum er im SPIEGEL-Gespräch das Völkerrecht als nachrangig darstellt und dessen Verbindlichkeit relativiert.
Die Frage, die sich aber stellt: Warum bieten deutsche Medien einem Mann wie Wolffsohn immer und immer wieder eine Bühne, um völkerrechtsrelativierende Narrative zu verbreiten?
Beispiel 4: Der US-amerikanische Angriff auf den Iran
Abschließend mache ich es mir wieder einfach: Gönnen Sie sich den Spaß und recherchieren Sie, ob und wie intensiv unsere Medien die Frage aufwerfen, gegen welche internationalen Prinzipien und Gesetze die USA in der Nacht vom 21. auf den 22. Juni 2025 verstoßen haben, als sie mit ihrer „Operation Midnight Hammer“ Irans Atomanlagen bombardierten.
Wenn Sie davon ausgehen, dass das Völkerrecht auch hier kein Thema sein dürfte, und Sie Ihre Zeit anders nutzen wollen, haben Sie die richtigen Schlüsse aus diesem Artikel gezogen. Gratulation.
Leider ist mit dieser Erkenntnis das große Problem nicht gelöst. Unsere Medien sind nicht mehr Wächter der Politik. Irgendwie scheinen sie inzwischen selbst Politik machen zu wollen. Das tun sie, indem sie die Narrative einer Seite fördern. Indem sie unangenehme Fakten unter den Teppich kehren, indem sie von kritischen Aspekten ablenken, indem sie Kontexte weglassen und selbst die Analyseergebnisse namhafter Organisationen und Expert*innen tabuisieren – was speziell in Bezug auf Apartheid- und Genozidvorwürfe gegen Israel der Fall ist. Wie umgehen mit diesem Problem?Alte Medienhasen wie Heribert Prantl haben auf diese Frage eine Antwort: Leserbriefe!
Vielleicht haben doch noch nicht genügend Menschen in die Tasten gegriffen. Vielleicht haben doch noch nicht genügend Autor*innen gelesen, wie durchsichtig die Einseitigkeit ihrer Artikel ist. Vielleicht spüren die Redaktionsleitungen doch noch nicht, dass unsere Geduld schwindet und wir nicht ewig bereit sein werden, Geld für einen Journalismus zu bezahlen, der uns zu manipulieren versucht. Also bitte – selbst wenn Ihnen Palästina oder der Iran egal sein sollten: Schreiben Sie die Redaktionen an und beschweren Sie sich! Wir müssen das Feuer löschen und die Vierte Gewalt retten. Denn eine Demokratie braucht seriöse Medien, denen Recht und Gesetz nicht egal sind.