Der 1. Mai, der Tag der Arbeit, steht traditionell für die Einheit und Solidarität der arbeitenden Menschen weltweit. Die Wurzeln der Arbeiterbewegung reichen tief in die Geschichte des Kampfes gegen Unterdrückung, Ausbeutung und Krieg. Immer wieder haben Gewerkschaften und soziale Bewegungen nicht nur für bessere Arbeitsbedingungen, sondern auch für Frieden und Gerechtigkeit demonstriert.
Aber nicht immer: Als 1914 der Erste Weltkrieg ausbrach, war es zum Beispiel nicht so. Damals vollzog die deutsche Arbeiterbewegung einen folgenschweren Bruch mit ihren eigenen Grundsätzen. Noch unmittelbar vor Kriegsbeginn hatten Gewerkschaften und SPD in scharfen Worten gegen die Kriegstreiberei protestiert und hunderttausende Arbeiter zu Antikriegsdemonstrationen mobilisiert: Am 28. Juli 1914 etwa fanden allein in Berlin über 100.000 Menschen zu Protestversammlungen zusammen, deutschlandweit waren es mehr als 750.000. Als andere vor lauter Kriegsbegeisterung den Ausbruch der Krieges kaum erwarten konnten, gingen Hunderttausende Arbeiter auf die Straße, um sich gegen den drohenden Krieg stellten.
Die Sozialistische Internationale verabschiedete in Brüssel eine Resolution, die die Arbeiter aller Länder zu verstärktem Widerstand gegen den Krieg aufrief.
Doch binnen weniger Tage wich diese Haltung einer beispiellosen Selbstverleugnung: Bereits am 2. August 1914 kapitulierte die Führung der Freien Gewerkschaften vor der Kriegseuphorie und erklärte den sogenannten „Burgfrieden“ – das vollständige Zurückstellen aller innenpolitischen Konflikte und den Verzicht auf Streiks für die Dauer des Krieges.
Diese Kehrtwende bedeutete nicht nur ein faktisches Schweigen zu den Gräueln des Krieges, sondern auch eine aktive Beteiligung an der nationalen Kriegsanstrengung – ein Verrat an den eigenen Werten von Internationalismus, Frieden und Solidarität. Die Gewerkschaften und die SPD-Führung verleugneten ihre Prinzipien, ließen sich von Angst vor Repressionen, Anpassung an die Volksstimmung und der Hoffnung auf innenpolitische Zugeständnisse leiten. Die Zahl der Streiks brach dramatisch ein: Von über 2.100 Streiks im Jahr 1913 sank die Zahl 1915 auf nur noch 60 – ein Rückgang um 99,9 Prozent.
Es heißt, dass man aus der Geschichte lernen soll. Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs ist jetzt fast 111 Jahre her. Das Wort, das die Gewerkschaften damals zum Schweigen brachte, war der Begriff „Burgfrieden“. In seiner Reichstagsrede beschwor Kaiser Wilhelm II diesen Burgfrieden, diese sture, bedingungslose Geschlossenheit mit dem Satz: „Ich kenne keine Parteien mehr, kenne nur noch Deutsche.“
Also hielt man den Mund. Denn jetzt hieß es, an einem Strang zu ziehen, so dass man sich nicht verdächtig macht, unpatriotisch zu sein.
Seit Oktober 2023 bringen andere Worte Gewerkschaften zum Schweigen: „Staatsräson“ und „Antisemitismus“. Aus dem Spruch des Kaisers „Ich kenne keine Parteien mehr, kenne nur noch Deutsche.“ Ist 2023 der Spruch des Kanzlers geworden, es gebe „nur einen Platz für Deutschland, den Platz an der Seite Israels.“
Ein Satz, der im Oktober 2023 noch nachvollziehbar schien.
Der aber mit jedem Tag, jeder Woche, jedem Monat der mordenden Gewaltexzesse israelischer Soldaten an palästinensischen Wohnhäusern, Gotteshäusern, Krankenhäusern, Schulen und Flüchtlingslagern einen irritierenden Klang bekam. Einen soziopathischen Klang. Einen Klang von Gewissenlosigkeit und Mittäterschaft.
Über Menschen, die das Vorgehen Israels falsch finden, hängt ein Damoklesschwert mit der Aufschrift Antisemit.
Und so kommt es, dass die Lehren aus der Geschichte vergessen wurden und es wieder so ist, dass man schweigt, wenn man sprechen, aufbegehren, brüllen und schreien müsste. Schreien, dass Zivilisten getötet werden. Dass Journalisten, Ärzten, Kinder getötet werden. Absichtlich. Vor laufenden Handykameras. Dass Menschen ausgehungert werden. Angekündigt. Ganz offiziell angekündigt von der israelischen Regierung.
Gewerkschaften stehen für Solidarität. Sie stehen für die Solidarität der Arbeiter untereinander.
Die Blockade der humanitären Hilfe durch das israelische Militär hat zu einer katastrophalen Lage geführt: Eine Million Kinder sind akut von Hunger, Krankheit und Tod bedroht. Die gezielte Verweigerung von Hilfslieferungen wird von internationalen Organisationen wie Ärzte ohne Grenzen und UNICEF als untragbar und als kollektive Bestrafung der Zivilbevölkerung verurteilt. Die Nutzung von Hunger und Leid als politisches Druckmittel widerspricht grundlegenden humanitären Prinzipien und fordert international klare Kritik und Handeln ein.
Die internationale Staatengemeinschaft, darunter auch Deutschland, ist aufgefordert, sich für die Einhaltung des humanitären Völkerrechts einzusetzen. Aber Deutschland tut nicht nur zu wenig. Deutschland schickt auch noch Rüstungsgüter nach Israel. Journalisten fühlen sich eingeschüchtert. Auf Universitäten wird Druck ausgeübt. Wenn Studentinnen und Studenten, viele davon jüdisch, für das Überleben der Menschen in Gaza und im Westjordanland protestieren, wird ihnen Antisemitismus vorgeworfen. Ist das der Grund, warum es so still ist um die Gewerkschaften?
Wo bleibt der Aufschrei? Solidarität hinter vorgehaltener Hand ist keine Solidarität. Solidarität hinter vorgehaltener Hand ist doppelter Verrat: Verrat an den Opfern der Israelischen Gewalt und Verrat an sich selbst, an den eigenen Werten, falls es die noch irgendwo gibt – dort wo mal ein Rückgrat war.
Das Argument, dass Demonstrationen am 1. Mai keine Kriege beenden könnten ist kein Argument. Es ist eine billige Ausrede. Eine feige Ausrede. Die Arbeiterbewegung war immer dann am stärksten, wenn sie sich nicht nur auf Lohn und Arbeitszeit beschränkte, sondern auch gegen Krieg, Unterdrückung und Unrecht eintrat. Schweigen bedeutet Zustimmung – und das Leid der Menschen in Gaza, das Töten von Zivilisten und die Verweigerung lebensnotwendiger Hilfe dürfen nicht hingenommen werden. Die Ideen der Arbeiterbewegung – Solidarität, Frieden, Gerechtigkeit – verpflichten uns, das Leid in Gaza zu benennen und die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. Der 1. Mai ist der richtige Tag, um für das Leben und die Rechte aller Menschen einzutreten, unabhängig von Herkunft, Religion oder Nationalität. Der 1. Mai darf nicht zum Tag der Feigheit verkommen.